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Deutsche Jugend Voran – Vernetzung junger Neonazis in Berlin

Am 27. Juli 2024 sammelte sich eine Gruppe von rund 30 Neonazis am Potsdamer Platz in Berlin. Mit schwarzen Jacken und größtenteils vermummt bewegten sie sich in Richtung der Strecke vom „Christopher Street Day“ bis sie von der Polizei festgesetzt wurden. Organisiert haben sie sich alle unter dem Namen „Deutsche Jugend Voran“ (DJV). Wie der Angriffsversuch zeigt, ist aus den gleichnamigen Kanälen auf Social Media inzwischen ein gefährliches Sammelbecken für gewaltbereite Neonazis geworden. Dennoch ist bisher wenig zu dieser neuen Struktur bekannt, die sich vorwiegend an jugendliche Rechte richtet.

Alles nur Internet-Nazis?

Der Slogan „Deutsche Jugend voran“ ist in der Neonaziszene insgesamt beliebt und weit verbreitet. Er findet sich auf zahlreichen Kleidungsstücken in einschlägigen Neonazi-Versänden oder auf Aufklebern, wie von „aktivde“. Mit ihm wirbt sowohl „Der III. Weg“ als auch die „HEIMAT“ (früher: NPD) um Nachwuchs. Seit einigen Monaten gibt es im Social Media ebenfalls zahlreiche Accounts, die unter dem Namen „Deutsche Jugend voran“ (kurz: DJV) rechte Propaganda verbreiten. Sie weisen alle ein ähnliches Layout auf und verwenden als gemeinsames Symbol in der Regel einen Reichsadler in einem schwarz-weiß-roten Kreis. 

Diese Accounts sind der Versuch zum niedrigschwelligen Aufbau eines bundesweiten rechten Netzwerk. Das Angebot richtet sich vor allem an junge Neonazis, um unkompliziert miteinander in Kontakt zu kommen und sich untereinander zu vernetzen. Inzwischen gibt es auch eine zentrale Homepage von DJV. Als Gründungsdatum wird der 21.05.2024 angegeben. Obwohl das gesamte Projekt somit relativ neu ist, wird das virtuelle Netz an Personen, die sich offen zu DJV bekennen und gegenseitig die Inhalte liken und weiterschicken, in der ganzen Bundesrepublik immer dichter. Auf fast allen Bildern vertreten ist das sogenannte „White Power“-Handzeichen als Bekenntnis zu rassistischen Vorstellungen einer vermeintlichen weißen Vorherrschaft. Neuerdings taucht als Geste ebenfalls eine mit mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger geformte „8“ auf. Sie ist eine Anspielung auf das in der Neonaziszene verbreitete Kürzel „88“ für „Heil Hitler“. Somit verweist bereits die Selbstinszenierung von DJV auf die explizit neonazistische Ideologie des Netzwerks.

DJV in Berlin und Brandenburg – Eine Tarngruppe der JN?

Auch für Berlin und Brandenburg gibt es auf den entsprechenden Social-Media-Plattformen Accounts, die sich als offizielle DJV-Vertretungen inszenieren. Anfangs wurde auch ein eigener Telegram-Kanal von DJV für die Region betrieben. Dieser wurde jedoch inzwischen eingestellt. Im Gegensatz zu vielen DJV-Accounts in der Bundesrepublik verwendet das Netzwerk in Berlin und Brandenburg auch alternative Logos. Dabei handelt es sich um einen Lorbeerkranz und wahlweise den Buchstaben „DJV“ oder dem Schriftzug „Deutsche Jugend Voran“ bzw. einem Bundesadler in der Mitte. Inzwischen gibt es von den Motiven bereits Aufkleber und T-Shirts.

Zuerst schien die neue Plattform in Berlin keinerlei Aktivität außerhalb von Social Media zu entfalten. Die erste Aktion von DJV in Berlin fand aber am 15. Juni 2024 statt. Über die Telegram-Gruppe wurde zu einem ersten offenen Treffen eingeladen. Letztendlich versammelten sich rund 30 Neonazis auf dem Flakturm im Humboldthain und posierten gemeinsam mit Bier und Deutschlandflagge. Fotos von DJV-Accounts legen nahe, dass es seitdem mehrere solcher Zusammenkünfte in der Stadt gegeben hat.

Bisher gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, wer hinter DJV in Berlin steht. Beobachtungen legen jedoch eine enge Anbindung an die „Jungen Nationalisten“ (JN), die Jugendstruktur von der „HEIMAT“ nahe. Fotos zeigen einzelne Neonazi-Angreifer vom 27. Juli beim Plakatieren für die Neonazipartei im Brandenburger Wahlkampf. Zudem wird interessierten Jugendlichen auf Social Media empfohlen, einen Aufnahmeantrag für die JN zu stellen und eine Gebühr von 5€ zu entrichten, um bei DJV mitmachen zu können.

Darüber hinaus gibt es wachsende Beziehungen zum Zusammenschluss “Elblandrevolte“ (ELR) aus Dresden. ELR ist eine Ortsgruppe der JN und erlangte öffentliche Aufmerksamkeit als Mitglieder im Europawahlkampf mehrere Plakatierteams demokratischer Parteien angriffen und dabei u.a. den SPD-Politiker Matthias Ecke schwer verletzten. [1] Einerseits finden sich zahlreiche Verweise zur ELR auf den Accounts der DJV-SympathisantInnen aus Berlin und Brandenburg. Andererseits waren mehrere Dresdner Neonazis aus dem Umkreis der ELR, wie u.a. „Paul“ (Nummer 21), beim Angriffsversuch auf den CSD in Berlin beteiligt. Zuletzt fuhr eine Dreiergruppe von DJV aus Berlin am 31. Juli nach Dresden, um sich dort mit dem Neonazi „Lucas Seifert“ zu treffen. Unter dem Namen „Chino“ tritt er auf Social Media als Aushängeschild der ELR auf. In diesem Zusammenhang erscheint es kaum als Zufall, dass der JN-Aktivist Finley Prügner zusammen mit einem weiteren Mitglied von ELR am 27. April in Berlin war, um in der Parteizentrale von der „HEIMAT“ ein Neonazi-Konzert zu besuchen. [2] Unter Umständen wurden bei diesem Treffen die Grundlagen für die DJV in Berlin und Brandenburg gelegt.

DJV Berlin-Brandenburg am 31.07.2024 in Dresden, rechts: Neonazi „Lucas Seifert“ alias „Chino“

Ein anderer Vernetzungsansatz eines kriselnden Jugendverbandes

Auch der Angriffsversuch vom 27. Juli orientiert sich an der ELR, die am 1. Juni 2024 mit mehreren Dutzend Neonazis den CSD in Dresden störte. Für den 10. August 2024 ruft Finley Prügner bereits zur Störung des CSD in Bautzen auf. Auch Berliner Neonazis aus dem Umfeld von DJV verbreiten die entsprechenden Share Pics auf ihren Accounts. Es spricht somit vieles dafür, dass es sich bei DJV um einen Versuch der JN handelt, wieder neue Mitglieder für den seit Jahren kriselnden Jugendverband zu gewinnen. Ob die erlebnisorientierten AnhängerInnen der DJV aber tatsächlich einer Parteijugend beitreten wollen, ist fraglich. Auch die bisherigen Aktivitäten unterscheiden sich deutlich von anderen Neonazi-Jugendorgansiationen, wie der beispielsweise der „Nationalrevolutionären Jugend“ (NRJ) vom „III. Weg“. So glichen die Treffen von DJV eher Saufgelagen, bei denen später noch Gruppenfotos mit Fahnen und Pyrotechnik gemacht wurden. Eine dauerhafte Organisierung der Beteiligten und eine Einbindung in politische Arbeit scheint vorerst nicht angestrebt zu werden. Zudem gibt es keine regelmäßigen Treffen, keine theoretischen Ansätze und kein erkennbares politisches Programm. Dabei sein können zunächst alle, die sich angesprochen fühlen. Auch das Fehlen einer klar erkennbaren politischen Führung ist in der extremen Rechten eher ungewöhnlich. Zusammengehalten wird DJV von einem diffusen Bekenntnis zu Deutschland, dem geteilten Rassismus und gemeinsamen Feindbildern, wie „der Antifa“ oder queeren Lebensweisen. Insgesamt handelt sich bei DJV vorrangig um eine virtuelle Plattform als Möglichkeit zur informellen und lockeren Vernetzung aktionsorientierter Jugendlicher. Auf dieser Basis können die Beteiligten anlassbezogen zusammenkommen. Doch der 27. Juli hat gezeigt, dass von einer solchen Vernetzung eine deutliche Gefahr ausgehen kann, da sie leicht zur Verabredung für gemeinsame Angriffe oder Einschüchterungsversuche genutzt werden kann.

Wer waren die AngreiferInnen vom 27. Juli 2024?

Mit der voll und ganz auf Social Media fokussierten Strategie richtet sich DJV gezielt an jugendliche Neonazis. Der Plan zur Mobilisierung scheint vorerst aufzugehen. Laut Polizeiangaben war mehr als die Hälfte der AngreiferInnen in der Umgebung des Berliner CSD unter 18 Jahre alt. Zwei waren sogar noch unter vierzehn und damit strafunmündig. Dementsprechend sind die meisten von ihnen bisher auch noch nicht in politischen Kontexten aufgefallen. Eine Ausnahme ist „Flo“ aus Berlin-Mahlsdorf (Nummer 10) sowie ein weiterer Neonazi (Nummer 5), die bereits am 6. Juli 2024 am Rand einer antifaschistischen Demonstration in Hellersdorf zusammen mit weiteren Personen die Teilnehmenden anpöbelten. [3]

Mittig: Nummer 5 und 2.v.r. „Flo“ (Nummer 10) beim Anpöbeln einer antifaschistischen Demonstration am 06. Juli 2024 in Berlin-Hellersdorf; Foto: Presseservice Rathenow

Doch wer sind die anderen unbekannten Neonazis? Zwei von ihnen sind Christopher Wetzels (Nummer 4) und Andrew-Justin Lischke (Nummer 16). Beide leben in Ost-Berlin und spielen Vereinsfußball. Christopher Wetzels (vollständiger Name: Nick Thomas Christopher Wetzels) spielte bis 2023 noch für die U16-Mannschaft beim FC Strausberg. Inzwischen ist er laut eigenen Angaben Jugend-Torwart beim FC Nordost Berlin in Marzahn, nicht unweit von seinem Wohnhaus. Am 19.06.2024 konnte Wetzels beim Verteilen von Flugblättern für den „III. Weg“ beobachtet werden. Lautstark prahlte er damit zur Partei zu gehören. Allerdings scheint er – wenn überhaupt – im erweiterten Unterstützungsumfeld des „III. Wegs“ aktiv zu sein und fand stattdessen über die Neonazis von „Jung & Stark“ (JS) zur DJV.

Während Christopher Wetzels Fan vom 1.FC Union ist, geht Andrew-Justin Lischke regelmäßig zum BFC. Dabei scheint er eine gewisse Nähe zur rechtsoffenen Jugendgruppe „Piefkes“ der sogenannten „Fraktion H“ zu haben. Er selbst ist hingegen Spieler in der Jugend beim BSV Oranke aus Hohenschönhausen, wo Lischke auch lebt. Insgesamt scheinen mehrere Spieler aus der Jugendmannschaft BSV Oranke am Potsdamer Platz dabei gewesen zu sein.

Sowohl Christopher Wetzels als auch Andrew-Justin Lischke stehen exemplarisch für eine bestimmte Jugendkultur, die sich in unter dem Dach von DJV trifft und vernetzt. Es sind größtenteils Freundeskreise von jungen Männer, die sich aus dem Umfeld unterschiedlicher Fußballfanszenen aus Berlin rekrutieren. Teilweise spielen sie selbst Fußball. Aber in der Regel besuchen sie vor allem gemeinsam Spiele, verkleben Sticker ihrer Vereine oder sprühen Graffiti. Teilweise inszenieren sich diese Zusammenschlüsse auch als eigenständige Gruppen, wie acht Jugendliche aus Biesdorf, die im Social Media als „Die richtige Generation“ (DRG) auftreten (unter anderem Nummer 30). Doch insgesamt scheinen die wenigsten bei DJV Erfahrung mit politischen Aktionen außerhalb von Social Media zu haben.

Was ist von DJV in Zukunft zu erwarten?

Momentan ist DJV vor allem ein Sammelbecken, um ein über Berlin verstreutes Potential an Personen und menschenverachtenden Einstellungen auch außerhalb von Social Media politisch nutzbar zu machen. Aus der Vernetzung heraus können die einzelnen Gruppen gemeinsame Aktionen planen und durchführen, für die sie sonst nicht genügend Kapazitäten hätten. Dabei agierten zumindest bei dem Angriffsversuch am Potsdamer Platz auch ansonsten verfeindete Fanszenen miteinander. Obwohl sich ein Großteil der Neonazis offensiv zu Hertha BSC oder dem BFC Dynamo bekennt, waren auch AnhängerInnen vom 1. FC Union unter den AngreiferInnen. Diese auffällige Häufung von Fußballbezügen zeigt, inwieweit es in Fußballfanszenen weiterhin zahlreiche rechtsoffene Lebenswelten gibt, in denen Jugendliche politisch sozialisiert werden. An toxische Männlichkeitskulte, Formen des Überlegenheitsdenken und eine gewisse Gang-Mentalität mit deutlicher Gewaltaffinität kann das Angebot von DJV politisch anschließen. Dementsprechend scheint sich die politische Logik der Gruppe auch eher an Mustern wie sogenannten Ackerkämpfen im Hooligan-Milieu zu orientieren. Auch dort kommen unterschiedliche Fanszene zusammen, um sich mit einem ausgemachten „Gegner“ zu prügeln. Bei DJV verabreden sich rechte Jugend-Gangs, um gemeinsam politische Gegner*innen zu überfallen und danach wieder auseinanderzugehen. Außerhalb von Straßengewalt zur Einschüchterung von Andersdenkenden scheint es bislang kein politisches Ziel zu geben. Das macht diesen Zusammenschluss sehr gefährlich.

Es ist abzuwarten, ob sich aus dieser losen Vernetzung, die vor allem von Fußball, Alkohol und Gewalt zusammengehalten wird, eine dauerhafte Gruppe entwickeln kann. In der Vergangenheit sind Zusammenschlüsse von rechten Fußball-Fans oft an Vereinsdifferenzen zerbrochen. Auch der unmittelbare Einfluss der JN auf DJV scheint gegenwärtig eher zu schwach, um dauerhaft ordnend eingreifen zu können. Der Zusammenschluss scheint eher als letzte Möglichkeit, um die Parteijugend der „HEIMAT“ mit allen Mitteln zu konsolidieren. Demgegenüber scheinen andere organisierte Neonazi-Strukturen, wie die NRJ, kein Interesse an einer Anwerbung oder Zusammenarbeit zeigen. Dementsprechend fungiert DJV gegenwärtig eher als Sammelbecken für rechte Jugendliche und Neonazis, die beispielsweise aufgrund ihres Konsumverhaltens keinen Platz in organisierten Parteijugenden finden können bzw. dies auch nicht wollen. Allerdings versammelt DJV eine große Menge an gewaltbereiten Jugendlichen aus Berlin und Brandenburg. Somit besteht durchaus die Möglichkeit, dass organisierte Neonazis die Gruppe als Pool für politische Gewalt entdecken und versuchen, einige Personen dauerhaft zu organisieren. Aus solchen Vernetzungseffekten kann sich eine bleibende Gefahr entwickeln. 

Wer mehr Informationen zu den AngreiferInnen vom 27. Juli 2024 hat, kann diese gerne an monitorberlin@riseup.net melden.